Vor zwei Tagen
Als Luniver die Halle der Lords betrat, waren bereits alle Stühle besetzt. Ohne Eile durchquerte sie den Raum. Ihre zwölf Vertrauten folgten ihr. Zwar waren sie alle Meister der arkanen Küste, doch Luniver übertraf sie bei weitem. Als die letzte Person den Raum betrat, setzte ein leises Wispern ein. Ein Mann. Seit vielen Jahren hatte kein Mann mehr den Weg der Magie beschritten. Luniver lächelte in sich hinein. Sie hatte lange überlegt, ob sie ihren neuesten Jünger mitnehmen sollte. Ein Mann, der Magie wirkte! Das war so sehr gegen die Tradition, dass selbst die begabtesten Studenten letztendlich meist den Weg des Kriegers wählten. Bis jetzt hatte sie sich gefragt, ob sie den Lords nicht zu viel zumutete. Ihre Zukunftspläne für ihr Volk waren revolutionär, das war ihr klar. Manche der Lords, wie der alte Kalar, nannten sie sogar irrwitzig. Daher war sie unsicher gewesen, ob dieser neuerliche Bruch der Tradition sie nicht sogar die dringend benötigte Unterstützung der Lords kosten würde. Doch nun, als ihr Jünger hinter ihr den Saal durchschritt, spürte sie keinen Ärger, sondern nur Unsicherheit bei den ach so tapferen Lords. Nun wusste sie, dass sich das Risiko gelohnt hatte.
Gemäß ihren Anweisungen waren am Kopfende des Tisches keine Stühle aufgestellt worden. Dort nahmen sie und ihre Vertrauten nun mit geradezu militärischer Präzision Aufstellung. Mit gefalteten Händen wartete sie geduldig, bis die Gespräche abgeflaut waren und sie der ungeteilten Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicher sein konnte.
„Meine verehrten Lords. Ich danke euch, dass ihr meiner bescheidenen Bitte so zahlreich nachgekommen seid. Unser Volk braucht euch heute mehr denn je.“ Ein wenig Schmeichelei konnte für den Anfang nicht schaden, doch sie wusste, dass es mehr brauchte, um die Lords aufzurütteln. Nun stützte sie die Hände auf den Tisch und beugte sich vor. „Wir waren einst ein Volk von Kriegern, doch seitdem wir der Knechtschaft des Einen entronnen sind, haben wir nichts geleistet. Oh ja, wir haben überlebt. Unsere Zahl ist sogar wieder gewachsen. Aber ist dies genug? Wie ich sagte: Wie WAREN ein Volk von Kriegern. Jetzt verkriechen wir uns wie Tiere in Höhlen und scheinen kaum in der Lage zu sein, die sporadischen Angriffe einzelner Abenteurer abzuwehren.“ Ihre Stimme war im Laufe ihrer kleinen Rede immer lauter geworden, teils aus Berechnung, teils um das empörte Murmeln der Lords zu übertönen. Nun wartete sie einige Sekunden, bevor sie mit sanfter Stimme fortfuhr. „Ich weiß, dass manche sie gerne noch als Wilde bezeichnen, doch steht fest, dass die Menschen zu einem ernstzunehmenden Gegner geworden sind. Einem würdigen Gegner für unser Volk.“
Noch während sie sprach, war Kalar aufgesprungen. Sein Gesicht war von blankem Hass verzerrt. „Das ist Wahnsinn und Ihr wisst es. Schlimmer noch, es ist unehrenhaft. Die Menschen ein würdiger Gegner? Die meisten von ihnen sind Bauern, Händler und Handwerker.“ Voller Verachtung spie er die Worte aus. „Ist das der Gegner, gegen den ihr unser Volk führen wollt? Ein Magier an der Spitze eines Volkes von Kriegern, die gegen einfache Bauern zieht? Ist das Eure Vorstellung von Ehre? Das entspricht nicht ‚Dem Weg’.“
„Mein lieber Kalar...“ begann Luniver, doch der Krieger unterbrach sie. „Folge Dem Weg und du gelangst nach dem Tode in die Große Halle der Ehre. So steht es geschrieben. Doch ihr wollt unser Volk ins Verderben stürzen. Das werde ich nicht zulassen.“
Luniver lächelte ihn an, was den Lord noch mehr in Rage versetzte. Sie wusste, er war nur noch einen Schritt von seiner Vernichtung entfernt. Und wenn er ausgeschaltet wäre, würden die anderen Lords sich ihr nicht verweigern.
„Die Götter selbst haben unser Volk zu Großem ausersehen. Ihr könnt Euch den Göttern nicht verweigern.“, belehrte sie den Lord.
Kalar wusste, dass er einen Fehler beging, sie so offen anzugreifen, doch er konnte sich nicht mehr beherrschen. Tage der Frustration brachen sich nun Bahn. „Das ist ein feige Lüge“, schrie er. „Es ist allein Euer Wille, der unser Volk ins Verderben führen wird und ich werde es euch beweisen.“
Die Magierin wollte vor Freude laut auflachen, beherrschte sich aber. Stattdessen setzte sie eine traurige Miene auf. „Tut, was immer ihr glaubt, tun zu müssen. Doch ich wünschte, ihr würdet Euch besinnen.
Es gab nun kein Zurück mehr, das war Kalar klar. Er war der Magierin in die Falle getappt wie ein grüner Rekrut. Er hätte es besser wissen müssen. Er spürte die Blicke der anderen Lords wie Dolche auf seiner Haut. Langsam nickte er. „So soll es sein.“, sprach er mit fester Stimme. Langsam griff er nach Bogen und Köcher, die – wie bei den anderen Lords auch – neben ihm am Tisch lehnten und spannte den Bogen. Den Bogen in der Linken und einen Pfeil in der Rechten wartete er. Sein Zorn war verraucht und eine tiefe Ruhe erfüllte ihn. Was immer in den nächsten Minuten geschehen würde, danach brauchte er sich um die Magierin nicht mehr zu Sorgen. Er lächelte leicht spöttisch. Selbst in Gedanken scheute er davor zurück, sie beim Namen zu nennen. Respekt vor dem Feind, das war Der Weg. Mit wieder vollkommen ernstem Gesicht neigte er leicht den Kopf in ihre Richtung. „Luniver.“ So, nun hatte er ihn ausgesprochen. Sie erwiderte den Gruß. „Kalar!“
Reglos standen sich die beiden Kontrahenten gegenüber. Kalar war längst kein junger Mann mehr, doch in Sachen Geschwindigkeit und Treffsicherheit brauchte er sich vor keinem der jüngeren Lords zu verstecken. Und als er sich schließlich bewegte, schienen die Jahre gänzlich von ihm abgefallen zu sein. Den Pfeil auflegen, den Bogen anheben, spannen und zielen. Luniver stand nach wie vor reglos da. Sie hatte gerade noch Zeit, zwei kleine Worte murmeln, da ließ er den Pfeil auch schon los. Niemals war er schneller gewesen. Ein perfekter Bewegungsablauf wie man ihn vielleicht einmal im Leben erreichen kann. Bis er den Schmerz spürte und sein linker Arm sich verkrampfte und den Pfeil, der die Sehne bereits verlassen hatte eine Winzigkeit zur Seite lenkte. Schon griff er nach dem nächsten Pfeil, obwohl er wusste, dass es zu spät war. Der erste Pfeil hätte treffen müssen, doch zischte er knapp an Luniver vorbei. Sie hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Vielleicht besaß sie mehr Ehre, als er gedacht hatte. Seelenruhig wartete sie ab, während er versuchte, den zweiten Pfeil aufzulegen. Doch die Krämpfe hatten sich nun auch auf seinen rechten Arm ausgebreitet. Er wusste, dass er diesen Pfeil nicht mehr abschießen würde. Als er auf dem Tisch zusammensank, fiel der Pfeil aus seinen zuckenden Fingern.
Luniver wartete, bis Kalar sich nicht mehr bewegte. Dann erhob sie die Stimme. „Er war ein tapferer Mann. Fehlgeleitet, doch seine Tapferkeit oder seine Ehre stehen außer Frage. Dereinst werden wir ihn in der Großen Halle der Ehre wiedertreffen. Und in einem hatte er Recht: Es liegt keine Ehre darin, gegen Bauern zu kämpfen. Doch ich will euch nun erklären, welchen Weg die Götter für uns vorgesehen haben. Es wird nicht einfach sein, denn die Stadt ist stark befestigt und seine Bewohner sind mutige Krieger. Sie ist die dem Prinzip der Ehre geweiht...“